Der private Park Tagua Tagua schützt einen dichten, naturbelassenen Wald im Norden Patagoniens und dessen eindrückliche Artenvielfalt. Der Besucher kann hier die immense, tausendjährige Patagonische Zypresse (Alerce; Fitzroya cupressoides) bestaunen und sieht gleich nebenan winzige Moose und Flechten, die dank der Feuchtigkeit hervorragende Wachstumsbedingungen vorfinden. Der Wald bietet aber auch diversen Vögeln ein weitgehend intaktes Habitat. Mit viel Glück und Geduld ist es sogar möglich, einen Puma oder ein Pudu zu erspähen.
Diese Unberührtheit kommt nicht zuletzt daher, dass der Park eine eher ungewöhnliche Anreise erfordert. Ab Puerto Montt resp. dem benachbarten schmucken Städtchen Puerto Varas fährt einmal täglich ein Bus zum Tagua Tagua See. Die Fahrt dauert rund 4 Stunden und führt im letzten Drittel über Kiesstrassen dem enormen Fjord Reloncaví entlang. Dieses Gebiet würde dank ihrer Idylle und ihrer “Natur pur” gross auftrumpfen – wären da nicht all die Fischfarmen und Aquakulturen. Dank der günstigen Wasserbedingungen ist der Estero Reloncaví zu einem der wichtigsten Zentren der chilenischen Zuchtlachsproduktion geworden. In letzter Zeit hat auch die Produktion von verschiedenen Meeresfrüchten in dieser Gegend markant an Bedeutung gewonnen.
Beim Tagua Tagua See wechselt man das Verkehrsmittel und steigt vom Bus auf die Fähre um. Diese bringt einem in rund 40 Minuten von Punta Canelo nach Puerto Maldonado. Dort wiederum wartet das parkeigene Boot und bringt einem auf einer kurzen aber malerischen Fahrt, vorbei an einem spektakulären Wasserfall, zum Parkeingang. Wer sich dort einen gut ausgebauten Steg vorstellt, von wo aus ein ebenes Kiessträsschen weiterführt, hat sich schwer getäuscht. Die Bootsfahrt endet bei einer Ansammlung von grossen Steinen, von wo aus eine steile, jedoch bestens unterhaltene Treppe am Infozentrum vorbei zum Campingplatz und zur ersten Hütte führt.
Ich stelle mein Zelt auf und nehme einen kleinen Snack zu mir, die tolle Aussicht auf den Tagua Tagua See und die dahinter liegenden Berge geniessend. Die Pause halte ich nur kurz. Schliesslich bin ich primär hierher gekommen, um den Wald mit seinen Bewohnern zu entdecken und zu geniessen. Ich fülle also meine Trinkflaschen mit Wasser auf und marschiere los. Es ist heiss. Ungewöhnlich heiss für diese Gegend. Die Sonne brennt mit voller Wucht vom Himmel. Ich bin froh, im Schatten des Waldes unterwegs zu sein. Immer wieder halte ich inne, um den Rufen der Vögel zu lauschen oder um Pflanzen aus der Nähe und in aller Ruhe zu betrachten. Farne sind gerade dabei, ihre Wedel zu entrollen. Die Scharlach-Fuchsien stehen in voller Blüte. Der Laureliopsis philippiana verströhmt einen intensiven, süsslichen Duft, der den ganzen Waldteil dominiert. Einige Male sehe ich einen Rotkehltapaculo, der jedoch innert Kürze im Dickicht verschwindet.
Das Wegnetz des Parkes besteht aus einem Hauptweg sowie davon abzweigend einigen Nebenpfaden, die zu Wasserfällen und Aussichtspunkten führen. Es handelt sich meist um Trampelpfade, die mal schmaler, mal breiter sind. Nicht selten muss man seine Füsse ein gutes Stück anheben, um nicht an den Wurzeln oder den grossen Steinen, über die der Weg führt, hängen zu bleiben. Im oberen Parkteil wurden sogar mehrere Treppen angefertigt und verlegt, damit die Besucher jenes steile Wegstück sicher bewältigen können und die Vegetation sowie den Boden so wenig wie möglich beeinträchtigen. Beim Wandern im Park sind eine gewisse Trittsicherheit und Kondition unumgänglich. Das Gelände ist aber keineswegs gefährlich und die Wege sind im Rahmen des Möglichen und Gewünschten bestens unterhalten. Es gehört nämlich zur Philosophie der Parkbetreiber, den Einfluss auf die Gegend so gering wie möglich zu halten. Dies gilt auch für das Wegnetz; es wird bewusst darauf verzichtet, breite, gut ausgebaute Kieswege anzulegen.
Am zweiten Tag krieche ich früh aus dem Zelt. Zum einem ganz nach dem Motto Carpe Diem, nutze den Tag. Zum andern möchte ich aber auch verhindern, dass ich wie am Anreisetag in der grossen Mittagshitze das Tal hinaufsteigen muss. Aufgrund seiner Exposition wird das Herzstück des Tagua Tagua Parks nämlich schon sehr früh von den Sonnenstrahlen erreicht. Nach rund 2,5 Stunden erreiche ich die Hütte Alerces. Sie ist sehr idyllisch gelegen, direkt am Ufer eines kleinen Sees, in dessen Zentrum zahlreiche tote Patagonische Zypressen (auf Spanisch: “Alerces”) stehen.
Eine dendrochronologische Untersuchung hat gezeigt, dass diese Bäume in der Mitte des 19. Jahrhunderts gestorben sind. Als mögliche Ursachen werden ein Bergsturz infolge eines Erdbebens (1837 ereignete sich in Chile ein solches von grosser Intensität) oder ein Lahar als Konsequenz des Ausbruchs des Vulkans Hornopirén im Jahre 1835 genannt. Beide Ereignisse dürften das Potential gehabt haben, den Fluss zu stauen, sodass sich der noch heute bestehende See bilden konnte. Dieselben Wissenschafter haben auch eine Reihe von Patagonischen Zypressen datiert, die im oberen Parkteil stehen. Dabei haben sie beweisen können, dass der Bestand im Umfeld der Hütte Alerces im Minimum 400 Jahre alt ist. Der Bestand einige Kilometer weiter oben, nahe der Hütte Quetrus, ist sogar mindestens 600 Jahre alt. Eines der Individuen dürfte aufgrund seiner enormen Grösse bis zu sage und schreibe 3000 Jahre auf dem Buckel haben.
Von der Hütte Alerces aus dauert es nochmals eine gute Stunde, bis man das Plateau erreicht, auf welchem sich ein prächtiges Feuchtgebiet, eine weitere Lagune sowie die Hütte Quetrus befinden. In gewissen Abschnitten sind zahlreiche Pilgerodendron uviferum (manchmal als Chilenische Flusszeder bezeichnet) zu bestaunen. Die hier permanent sehr nassen Böden sind ein idealer Standort für das im südlichen Südamerika heimische Zypressengewächs. Wer ein gutes Auge hat und aufmerksam ist, kann zudem die winzige, fleischfressende Drosera uniflora aus der Gattung Sonnentau entdecken.
Das Panorama, das sich von der Terrasse der Hütte aus bietet, ist imposant. Still liegt der Bergsee vor uns. Seine Ufer sind von Bäumen und Sträuchern gesäumt. Unweit des Sees heben sich dann aber auch schon die Berge in die Höhe. Ihre Flanken sind steil. Dort wo sich im Verlaufe der Jahrtausenden infolge der Erosion durch Wind und Wasser Lockergestein ansammeln konnte und eine Bodenschicht bildete, hat sich Vegetation angesiedelt. Der Grossteil der Bergflanken besteht aber aus reinem Muttergestein, das kaum Lebensraum für Pflanzen bietet. Im oberen Teil haben sich zudem Firnschnee- und Gletscherresten erhalten können.
Auf dem Rückweg mache ich noch den einen oder anderen Abstecher zu einem Wasserfall. So lege ich an diesem Tag insgesamt um die 23 km zurück. Dabei denke ich immer wieder daran, wie es wohl für die Ureinwohner und die ersten Siedler gewesen sein muss, sich in dieser dichten Vegetation zu bewegen. Das Unterholz ist extrem üppig, was eine Durchquerung ohne Pfad zu einem ziemlich kräftezehrenden und langwierigen Unterfangen macht. Zudem ist es alles andere als einfach, die Orientierung zu behalten. Im weglosen Gelände ist die Sicht aufgrund der kompakten und relativ hohen Vegetation äusserst begrenzt. Da war es von extremer Wichtigkeit, sich am Sonnenstand und an der Geographie orientieren zu können und möglichst achtsam unterwegs zu sein, wobei alle Sinne zum Einsatz kommen mussten.
Der Park Tagua Tagua erscheint mir ein gut gelungenes Beispiel eines Schutz- und Konservationsprojekts. Die maximale tägliche Besucherzahl wird bewusst tief gehalten und die Anreise ist nicht ganz einfach, sodass grosse Menschenansammlungen sowieso so gut wie ausgeschlossen sind. Der Besucher wird schon bei der Ankunft daran erinnert, keinerlei Spuren im Park zu hinterlassen. Die Infrastruktur ist zweckmässig aber einfach. Auch das Wegnetz ist nur soweit ausgebaut, dass der Besucher den Park zwar entdecken und geniessen kann, dass die Auswirkungen auf das gesamte Ökosystem aber möglichst gering sind. Bleibt zu hoffen, dass der Klimawandel den Patagonischen Zypressen und anderen einheimischen Pflanzen und Tieren nicht allzu sehr zusetzt, sodass dieses Stück intakter Natur noch lange Bestand haben und als Lern- und Erholungsgebiet dienen kann.
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